Namensbeitrag des Bundesministers für Arbeit und Soziales, Franz Müntefering; leicht gekürzt erschienen am 20. September in der „Frankfurter Rundschau“.

MuenteferingWer soziale Gerechtigkeit will, kann sich in einer insgesamt wohlhabenden Gesellschaft nicht damit abfinden, dass Menschen in Armut leben müssen. Das gilt ganz besonders für Kinder.Deutschland ist aber eine insgesamt wohlhabende Gesellschaft und doch gibt es eine erhebliche Zahl von Menschen, die arm sind. Auch zahlreiche Kinder.Das zu ändern, ist nicht nur die Aufgabe der Politik, denn Armut hat verschiedene Ursachen. Aber es ist auch Aufgabe der Politik. Aufgabe der Sozialdemokratie in besonderer Weise.

Es gibt Armut in Deutschland. Im europäischen Maßstab zwar vergleichsweise wenig, aber das ist kein Trost für die Betroffenen und kein Alibi für die Politik in Deutschland, bei der Bekämpfung der Armut nachzulassen.

Es gibt verschiedene Gründe für Armut und Ausgrenzung. Deshalb gibt es auch verschiedene Wege, diese Ursachen zu bekämpfen. Drei ragen heraus: Arbeit und Bildung und Sozial-Transfers. Diese sind die wirkungsvollsten. Teils vorher, und teils als akute Hilfe. Es geht um materielle Sicherheit und Unterstützung, um Armut zu lindern, und es geht um Chancen auf Bildung, Ausbildung und Arbeit, um Armut zu vermeiden.

Die folgenden Ansätze im Kampf gegen Armut stehen aktuell im Mittelpunkt. Es ist von besonderer Bedeutung, sie zielführend zu einem wirkungsvollen Konzept zu verbinden. Wir können handeln. Wir wollen es. Die Vereinbarungen von Meseberg eröffnen Handlungsmöglichkeiten für die Koalition.

1. Arbeit schaffen, gute Arbeit, die fair bezahlt wird und die vor Hilfebedürftigkeit bewahrt.

Arbeit haben ist die beste Hilfe zur Selbsthilfe. Und um Hilfe zur Selbsthilfe geht es ganz überwiegend beim Kampf gegen Armut. Die Erfolge am Arbeitsmarkt – rund 1 Million Arbeitslose weniger als 2005 – müssen verstetigt, ausgebaut und strukturell gesichert werden.

Wirtschaftliche Dynamik ist dauerhaft nötig. Auch möglich: Die Unternehmenssteuerreform und die Erbschaftssteuerreform verbessern die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Die Direktinvestitionen der öffentlichen Hand sind zusätzliche Impulse; sie sind zur Zeit zu niedrig. Das gilt besonders für kommunale Investitionen in die Infrastruktur. Die sind dringlich, auch weil vielerorts von der Substanz gelebt wird. Die öffentlichen Haushalte ermöglichen wieder zusätzliche Anstrengungen. Ein mehrjähriges Programm zur energetischen Sanierung aller einschlägigen öffentlichen Gebäude – z. B. – wäre gut für Arbeitsplätze beim Handwerk und bei der Zulieferindustrie und für Klimaschutz und würde sich schon mittelfristig amortisieren. Das gilt auch für Anreizförderung in Richtung privater Investitionen. Das bis 2009 wirksame 25-Milliarden-Programm der Bundesregierung ist ein gutes Beispiel. Es sollte wirkungsvoll verlängert werden. Und die Rolle der Haushalte als Auftraggeber ist zu stärken. Es ist deshalb sinnvoll und nötig, diese gute Perspektive für den Arbeitsmarkt  auch steuersystematisch vernünftig einzuordnen und so dazu beizutragen, dass Haushalte ihren Bedarf an Dienstleistungen umsetzen und dass die Dienstleister ordentlich bezahlt und sozial versichert die Arbeit leisten können. Der Dienst Mensch am Mensch ist eine zentrale gesellschaftliche Dienstleistung, sie wird am Arbeitsmarkt an Bedeutung gewinnen.

Bei einer Million offener Stellen bleibt es natürlich auch eine große Herausforderung für die Unternehmen und die Arbeitslosen, für die Bundesagentur für Arbeit, die Arbeitsgemeinschaften und die Optionsgemeinden, so viele wie möglich von den freien Arbeitsplätzen bald zu besetzen und so der Wirtschaft Schwung zu geben und Arbeitslosigkeit weiter zu reduzieren.

Wir helfen aktuell besonders den Gruppen, die es schwer haben, Beschäftigung zu finden: den Älteren mit der Initiative 50plus, den Jüngeren mit dem Qualifizierungs-Kombi, den Langzeitarbeitslosen mit dem Beschäftigungszuschuss (sozialer Arbeitsmarkt) und dem Kommunal-Kombilohn, den behinderten Menschen.

Arbeit muss fair bezahlt werden. Wer arbeitet, muss mehr verdienen als der, der nicht arbeiten kann oder will. Löhne unter dem Existenzminimum sind sittenwidrig. Deshalb bleibt der Mindestlohn – nicht nur der für die einzelne Branche – als flächendeckende, stabile Grundlage für eine vernünftige Konzeption im Niedriglohnbereich unverzichtbar. Die Philosophie der sozialen Marktwirtschaft braucht auch eine Lohnuntergrenze, die verhindert, dass mit Dumpinglöhnen Menschen unwürdig behandelt werden und mit Lohndumping ehrliche Unternehmer in die Knie konkurriert werden.

Es ist absurd und nicht weiter hinnehmbar, wenn zu niedrige Löhne aus der Steuerkasse in Form von Sozialtransfers ausgeglichen werden müssen. Wer sich empört über die Höhe der Arbeitslosengeld-II-Zahlbeträge – manche Konservative tun das -, der darf nicht verdrängen, dass ein hoher Zahlbetrag entsteht, weil es bisher keine Mindestlöhne gibt.Menschen, Familien, Paare, Alleinstehende und in hohem Maße auch Kinder fallen in Armut, weil es sittenwidrig niedrige Löhne gibt. Damit finden wir uns nicht ab.Mindestlöhne über Arbeitnehmerentsendegesetz und Mindestarbeitsbedingungengesetz wird es zunehmend geben. Das ist ein Fortschritt. Der flächendeckende Mindestlohn bleibt aber unverändert nötig. Ohne ihn wird es eine sozial schlüssige Regelung im Niedriglohnbereich nicht geben können.

2. Der Anpassungsmechanismus des Existenzminimums (Sozialhilfe und Arbeitslosengeld II und Grundsicherung im Alter und steuerfreies Existenzminimum) muss angemessen sein.

Nachdem Preiserhöhungen für Nahrungsmittel angekündigt wurden, ist vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales eine Überprüfung des Anpassungsmechanismus‘ eingeleitet worden. Das Statistische Bundesamt wird die nötigen Zahlen liefern. Im November wird man wissen, wie die Preisentwicklung für wichtige Verbrauchsgüter in den letzten beiden Jahren und bis dahin gewesen ist und ob das Existenzminimum noch ausreichend ist und der Anpassungsmechanismus zielführend.Der Anpassungsmechanismus wurde 1997 geändert, als man vom bis dahin benutzten Verbraucherindex auf den Rentenerhöhungsfaktor umstieg. In 1997-2003 stiegen die Renten und dementsprechend stieg auch die Sozialhilfe. 2004-2006 gab es keine Rentenerhöhung (weil es keine Lohnsteigerungen gab) und damit stiegen auch die Sozialhilfe und die Arbeitslosengeld-II-Beträge nicht. (Allerdings wurde vom BMAS eine Anhebung der Zahlbeträge in Ostdeutschlang von 331, – Euro auf das westdeutsche Niveau angeregt und durchgesetzt. Dafür gab es seinerzeit Kritik von Repräsentanten der CDU/CSU, die vorschlugen, die Einheitlichkeit des Zahlbetrages in Ost und West dadurch zu erreichen, dass man den Zahlbetrag im Westen reduziert.)In 2007 erhöhte sich nunmehr die Rente um 0,54 Prozent und entsprechend stiegen Sozialhilfe und Arbeitslosengeld II und Grundsicherung im Alter. Es ist nun zu klären, welcher Anpassungsmechanismus in Zukunft für die genannten sozialen Sicherungssysteme gelten soll.2004 wurde einvernehmlich beschlossen, dass die Regelungen in der Sozialhilfe die Referenzgrößen sind für die Regelung beim Arbeitslosengeld II und dass es somit eine Parallelentwicklung gibt.

3. Vollzeit oder vollzeitnah beschäftigte Menschen mit unzureichendem Einkommen vor der Hilfebedürftigkeit bewahren.

Die Idee des Kinderzuschlags stammt aus der Zeit der Vorgängerregierung, als Ministerin Renate Schmidt dafür warb, Familien mit Kindern, die in die Hilfebedürftigkeit zu rutschen drohen, mit einem Zuschuss auf Zeit zu stabilisieren. Von diesem Gesetz profitieren heute 120.000 Kinder. Das Gesetz soll weiterentwickelt werden. Darüber gibt es Einvernehmen. Gleichzeitig soll diese gute Grundidee aber auch für Arbeitslose ohne Kinder gelten.Die Koalition arbeitet deshalb zurzeit an dem Konzept eines Erwerbstätigenzuschusses, einschließlich einer Kinderkomponente. Dabei ist auch die Rolle des Wohngeldes zu beachten.Ziel ist es – und es ist auch möglich – einige hunderttausend Menschen weniger in die Hilfebedürftigkeit und die Regelungen des Arbeitslosengeldes II fallen zu lassen. Das nutzt dann auch vielen Kindern.

4. Konkrete Hilfe für Kinder, Ganztagsangebote, Bildungschancen.

Armut von Kindern macht sich nicht nur an den Zahlbeträgen von Sozialhilfe und Arbeitslosengeld II fest. Kinder können auch deshalb arm sein, weil ihnen die Möglichkeit des Besuchs einer Krippe oder einer Kindertagesstätte oder einer Ganztagsschule aus Kostengründen verwehrt ist oder weil sie unzureichend – auch ungesund – mit Essen versorgt sind oder weil ihre Familien ihnen nicht die nötigen Schulbücher bezahlen können. Bildungsarmut und mangelhafte oder ungesunde Ernährung führen oft zu dauerhafter Armut.

Wem die Möglichkeiten der Bildung und der Entwicklung beschnitten werden, der hat schlechte Chancen, als Erwachsener sich im Berufsleben durchsetzen zu können und dessen Bildungsarmut führt nicht selten auch zu materieller Armut. Solcher Entwicklung kann durch konkrete Hilfen für Kinder (und ihre Familien) vorgebeugt werden.

Deshalb haben wir den Ausbau der Betreuung für unter Dreijährige schon unter der Vorgängerregierung begonnen und aktuell intensiviert. Deshalb setzen wir jetzt den Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz durch. Und deshalb unterstützen wir seit einigen Jahren als Bund die Länder beim Aufbau von Ganztagsschulen. Es ist richtig und muss forciert werden, dass Länder und Kommunen sich bemühen, Betreuungsangebote kostengünstig oder kostenfrei zu stellen.

In vielen Ländern und Kommunen gibt es bereits gute Beispiele für Bemühungen um  solche konkreten Hilfen, die für die besonders armen, aber auch für die erziehungsschwächeren Familien und deren Kinder von besonderer Bedeutung sind. Sie sind unerlässlich, um Chancengerechtigkeit wirklich zu gewährleisten.

Wir denken von der Interessenlage der Kinder her und prüfen deshalb auch, ob im Bereich solcher konkreten Hilfen die tatsächliche Armut der Kinder nicht besser als mit reinen Zahlbeträgen für die Familien reduziert werden kann. Die Frage stellt sich, ob nicht eine Gutschein- oder vergleichbare Lösung wirkungsvoller wäre für die Kinder. Also ein gebührengünstiges oder gebührenfreies Essen in der Kita oder in der Schule. Oder niedrigere Gebühren für den Kita-Besuch überhaupt. Oder eine spezielle Unterstützung bei der Einschulung. Vieles spricht dafür.

Hilfen konkreter Art in diesem Bereich sind im übrigen auch eine entscheidende Unterstützung für die vielen Alleinerziehenden, die oft aus ganz praktischen Gründen daran gehindert sind, Berufstätigkeit und Betreuung der Kinder vernünftig miteinander zu verbinden und die ganz besonders auf preisgünstige und kinderfreundliche Betreuungsangebote im öffentlichen Bereich angewiesen sind. Besonders viele Kinder von Alleinerziehenden sind bisher mit ihrem Elternteil in Armut.

Die Bekämpfung von Armut, soweit Politik gefordert ist, braucht abgestimmte Maßnahmen und Verfahrensweisen von Bund, Ländern und Gemeinden, insbesondere wenn es um konkrete Hilfen und praktische Maßnahmen geht. Die klaren Zuständigkeiten nach den Regeln unserer föderalen Staatstruktur müssen dafür nicht geändert werden, aber es muss die gemeinsame Verantwortung im Interesse und zum Nutzen der betroffenen Menschen bejaht werden und Grundlage zielgerichteten Handelns sein.

Armut und Armutsrisikogrenze

Die konkrete Ermittlung des notwendigen Lebensunterhaltes und eines sachgerechten Anpassungsmechanismus sind nicht einfach und unterliegen dem gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum. Heute liegt  der Regelsatz bzw. die Regelleistung für die erste Person in einer Bedarfsgemeinschaft bei 347 Euro monatlich plus der Übernahme der Kosten für eine angemessene Wohnung, die sich an der Größe der Bedarfsgemeinschaft orientiert. Für weitere Personen ab 14 Jahren in der Bedarfsgemeinschaft liegt der Regelsatz bzw. die Regelleistung bei 80 Prozent von 347 Euro, für Kinder unter 14 Jahren bei 60 Prozent.

Der Bezug auf einen angemessenen „Warenkorb“ für Sozialhilfeempfänger wurde in den 90er Jahren durch eine genauere Methode ersetzt, bei der alle fünf Jahre tatsächliche Ausgaben repräsentativ erfasst und gewichtet werden. Das geschieht 2008 wieder und dürfte 2010 ausgewertet sein und wirksam werden.2004 wurde gesetzlich geregelt, dass die Sozialhilfe Referenzgröße für das Arbeitslosengeld II ist. In den ersten beiden Jahren gibt es jedoch Zuschläge zum ALG II von bis zu 160 bzw. 80 Euro monatlich. Die Verfassungsmäßigkeit der Höhe der heute geltenden Regelsätze/Regelleistungen für Sozialhilfe bzw. ALG II wurde im November 2006 vom Bundessozialgericht bestätigt. Deshalb ist äußerste Sorgfalt bei einer möglichen Weiterentwicklung geboten. Beliebigkeit schließt sich jedenfalls aus.

Soziale Netzwerke

Die organisierte Solidarität des Sozialstaates, die auf Pflichten und Rechten gründet, ist Bedingung für soziale Gerechtigkeit. Im Allgemeinen und ganz überwiegend ist diese organisierte Solidarität in Deutschland stabil und ausreichend; das gilt bei Arbeitslosigkeit, im Alter, bei Krankheit und sonstiger Hilfebedürftigkeit.Aber nicht jedes individuelle Schicksal ist durch Gesetz und Verordnung – und mögen sie noch so gut und abgewogen sein – sozial gerecht und menschlich zu beantworten.Deshalb: Das haupt- und ehrenamtliche Engagement von und in Sozialverbänden, zivilen Organisationen, Kirchen und Vereinen ist von überragender Bedeutung ganz besonders für solche Bereiche, in denen Menschen – das kann auch für Familien gelten – zur Zeit zu schwach sind, ihre Rechte wahrzunehmen und die sozialstaatlichen Garantien für sich zu nutzen und aus der so gestützten eigenen Kraft den Weg aus der Armut zu finden und nachhaltig zu gehen.Bekämpfung der Armut setzt in der Realität des Alltags solches besondere Engagement voraus und die Handlungsfähigkeit solcher Organisationen. Die gezielte, intensive Zusammenarbeit staatlicher Stellen mit ihnen ist unverzichtbar.

Das gilt auch international. Im Rahmen des Möglichen wollen wir auch dort dazu beitragen, Armut einzudämmen.Das gebietet die Solidarität mit denen, die millionenfach auf dieser Welt in bitterer, oft tödlicher Armut leben.Das gebietet aber auch die Erfordernis, Konflikten und Kriegen die direkt und indirekt durch Armut ausgelöst werden, nach besten Kräften vorzubeugen.Und auch hier ist Zusammenarbeit zwischen staatlichen Stellen und Nicht-Regierungs-Organisationen wichtig.

Handeln

Die Politik der Bundesregierung ist auf dauerhaften Wohlstand für alle gerichtet und darauf, dass in unserem Lande alle gerecht daran teilhaben können.Nachdem – durch Maßnahmen der Regierung Schröder und durch das Handeln der Großen Koalition – ein starker Wachstumsschub bewirkt ist, die Arbeitslosigkeit deutlich sinkt, die Nettokreditaufnahme schnell reduziert werden kann und sich die sozialen Sicherungssysteme stabilisieren, müssen jetzt entschiedene Schritte gegen Armut getan werden.Die Vereinbarungen von Meseberg bieten geeignete Grundlagen für entschlossenes Handeln:

  1. Impulse für ein auch mittel- und langfristig stabiles Wachstum
  2. Bekämpfung der Arbeitslosigkeit: Ausbildung, Qualifizierung, Vermittlung, faire Löhne, Mindestlöhne
  3. Erwerbstätigenzuschuss mit Kinderkomponente zur Stabilisierung im Grenzbereich zu Arbeitslosengeld II/Sozialgeld
  4. Überprüfung des Anpassungsmechanismus‘ des Existenzminimums und geeignete Maßnahmen, z. B. in Form konkreter Hilfen für Kinder

Das Land steht vor einer zentralen Herausforderung und vor einer großen Chance. Weniger Armut ist möglich.