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Es geht nicht gerecht zu in Deutschland. Immer mehr Menschen empfinden das so. Und sie haben Recht. Eine vorwärts-Reportage über die Folgen falscher Politik, die Sorgen klammer Kommunen, Armut in einem reichen Land und über Menschen, die anpacken und helfen. Das hatte Annemarie Dose nicht erwartet. Als sie 1994 die Hamburger Tafel gründete, dachte sie an Obdachlose. Etwas zu Essen, warme Kleidung, Schlafsäcke, damit wollte sie helfen, dafür knüpfte sie Kontakte, dafür begann sie zu werben: bei ihrem Bäcker um das Brot von gestern, bei Hotels und Supermärkten um nicht verbrauchte Lebensmittel, bei Kaufhäusern um unverkaufte Ware. Doch statt der Obdachlosen sind die Empfänger Familien. „Damit die mit ihrem wenigen Geld besser zurecht kommen,“ sagt Annemarie Dose (82). Heute verteilen die gut 100 Ehrenamtlichen der Hamburger Tafel allein 80 Tonnen Lebensmittel an soziale Einrichtungen – jeden Monat. Dazu Kleidung, Decken, sowie Geschirr und Spielzeug.

Hamburger Tafel

Weniger Geld für viele, mehr Geld für wenige

Es ist etwas passiert in Deutschland, und Annemarie Dose hat es hautnah miterlebt: Immer mehr Menschen sind arm – weil sie keine Arbeit finden oder mit ihrer Arbeit nicht genug verdienen, um davon sich selbst und ihre Familie zu ernähren. Das zeigt auch ein Blick in die Statistik. Von Armut bedroht ist, so hat es die OECD festgelegt, wer mit weniger als 60 Prozent des Durchschnittsnettoeinkommens auskommen muss – in Deuschland 764 Euro für eine allein lebende Person, 1376 Euro für ein Paar ohne Kinder, 1835 für ein Paar mit zwei Kindern. So hat es der Paritätische Gesamtverband für das Jahr 2007 errechnet.

Wohnung, Essen, Kleider, Telefon, Fahrkarten, Schulbücher, alles muss davon bezahlt werden. Kein Wunder, dass bei der Hamburger Tafel die Nachfrage ständig steigt. In anderen Städten ist es ähnlich. Mehr als 800 lokale Tafeln gibt es mittlerweile. Während es einem Teil der Menschen in Deutschland besser geht – solchen mit guter Ausbildung, gefragten Berufen oder Vermögen – rutscht der untere Teil ab.

Arme Kinder, arme Zukunft Die Inflation frisst ihre Lohnsteigerungen mehr als auf, sofern es höhere Löhne überhaupt gibt. Unternehmen kündigen Mitarbeitern, um sie als Leiharbeiter für weniger Geld neu zu beschäftigten. Wenn sie einstellten, dann viel zu oft zu Hungerlöhnen. So stieg das Armutsrisiko – von 13 Prozent zu Beginn der 90er Jahre auf 18 Prozent 2005. Zwar brachte der Wirtschaftsaufschwung 2006 einen Rück-  gang auf 16,5 Prozent. Eine Million Menschen waren der Armut entronnen. Von Dauer wird diese Entwicklung nicht sein: „Die sich abzeichnende konjunkturelle Abschwächung dürfte die Entwicklung der realen verfügbaren Einkommen wieder dämpfen,“ so das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung. „Mittlerweile gelten mehr als 2,4 Millionen Kinder in unserem reichen Land als arm“, konstatiert der Bundesvorsitzende der Arbeiterwohlfahrt (AWO) Wolfgang Stadler. Das entspricht mehr als 17 Prozent aller unter 18-Jährigen. Hinzu kommen weitere 1,5 Millionen Kinder, deren Eltern zu Dumpinglöhnen arbeiten. In all diesen Familien reicht das Geld gerade mal für das Nötigste. Schon Schulausflüge können viele Eltern nicht bezahlen. Urlaubsreisen, Sportverein, Musikunterricht – Fehlanzeige. Die Haushaltskasse reicht nur für ein Schmalspurleben.

Wer viel verdient, bekommt am meisten

Doch statt die Kinder armer Eltern mehr zu unterstützen als die Kinder reicher Eltern, ist es beim Kindergeld umgekehrt: Wer viel verdient bekommt am meisten, weil er den Kinderfreibetrag geltend machen kann. Wer langzeitarbeitslos ist, geht leer aus. „Die Anrechnung des Kindergeldes auf das Arbeitslosengeld II ist ungerecht“, kritisiert AWO-Chef Wolfgang Stadler. „Es verstärkt die Kluft zwischen Arm und Reich nur noch mehr.“

Aus diesem Grund fordert das „Bündnis Kindergrundsicherung“, an dem auch die AWO beteiligt ist, 502 Euro für jedes Kind – zusammengesetzt aus 322 Euro vom Bundesverfassungsgericht festgestelltem Existenzminimum plus 180 Euro für Betreuung, Erziehung und Ausbildung – für alle Kinder. Das Geld soll versteuert werden, so dass die Zuwendung mit steigendem Einkommen abschmilzt. Wer wenig verdient bekäme mehr, wer viel verdient weniger Kindergeld.

Sparen will gelernt sein

Womit wir mitten in einer heißen Debatte stecken: Mehr Kindergeld, das komme bei den Kindern armer Eltern gar nicht an, lautet der Vorwurf. „Lieber kostenloses Schulessen als 20 Euro mehr Kindergeld. Lieber kostenlose Kitas als 50 Euro mehr Hartz IV“, forderte der Bürgermeister von Berlin-Neukölln, Heinz Buschkowsky (SPD), kürzlich in „Bild“.

Ein Argument, das Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband nicht nachvollziehen kann. „Ein Schulbesuch ersetzt keinen Wintermantel und ein Wintermantel keinen Schulbesuch.“ Seine Erfahrung ist, dass Eltern immer erst bei sich sparen, bevor sie bei den Kindern sparen. Ulrich Schneider: „Das gilt auch für Eltern im Hartz IV-Bezug.“ Doch sparen will gelernt sein. Ein junger Mann, nackter Oberkörper, Tattoos auf Arm und Brust, das Töchterchen auf dem Arm: Das Plakat wirbt für Kochkurse der Hamburger Tafel. Der Slogan: „Einfach. Günstig. Lecker.“ Das Ziel: Mahlzeiten kochen zu lernen, die für vier Personen nicht mehr als fünf Euro kosten. Die Kurse finden unter fachkundiger Anleitung statt, dann wird gemeinsam gegessen, und am Ende gibt’s die gleichen Zutaten noch mal für zu Hause. „Funktioniert fabelhaft“, sagt Annemarie Dose. Elf Kurse laufen in Hamburg derzeit parallel, das dazu gehörige Kochbuch wurde 16 000 Mal verkauft.

Weiterführende Informationen zur Hamburg Tafel finden Sie unter diesem Link »»

Anmerkung: Bernd P. Holst von der FreiwilligenBörseHamburg weist darauf hin, dass die Hamburger Tafel auch in Billstedt tatkräftig „frei Haus“ Hilfe leistet. Dank an die ehrenamtlichen Helfer. Das Job-Cafè Billstedt wird von dem Restaurant MERAM, Billstedter Hauptstraße, und dem Restaurant Schweinske mit dem kostenlosen Frühstück unterstützt. Weitere Unternehmen vor Ort unterstützen ebenfalls die Aktivitäten des Job-Cafès Billstedt, so das Billstedt Center und J.J. Darboven.